Die Pandemie zerriss seit dem Beginn des Jahres 2020 in eindrucksvoller Weise den Vorhang, welcher die Verletzlichkeit manifest geglaubter Werte unserer Gesellschaft, bis hin zur Unverletzlichkeit unserer Grundrechte, präsentierte.
Die Ereignisse der vergangenen Monate, welche unabhängig von einer tatsächlichen Infektion, letztlich Allen und Jedem Einschränkungen und Reglementierungen in bisher nicht gekannter Weise abverlangte, erzeugte eine kollektive Wahrnehmung von Angst, Ohnmacht und gesellschaftlicher Exklusion. Nicht wenige fühlten sich - herausgerissen aus gewohnten Strukturen und Abläufen - plötzlich mit sozialer Isolation und Existenzängsten konfrontiert, persönlich machtlos, übriggeblieben und ohnmächtig. In gewisser Weise hat uns die Pandemie einen Exkurs in die Welt der Übriggebliebenen, Ohnmächtigen und Machtlosen ermöglicht. Eine Welt, welche die meisten von uns, bei „geschlossenem Vorhang“, schlicht ignorieren oder lediglich oberflächlich betrachten, von der wir jedoch ungeachtet dessen, häufig meinen be- und verurteilen zu können.
Aber was ist mit Menschen, welche auch ohne Pandemie in dieser Welt leben? Langzeitarbeitslose, psychisch kranke oder suchtkranke Menschen beispielsweise? Wie erging es Menschen die man umgangssprachlich zu den Randgruppen zählt und deren Unterstützung man bereitwillig der Fürsorge professioneller und theoretisch vernetzter Systeme oder, aus Kostengründen besser noch, ehrenamtlich Engagierter überlässt? Um es vorweg zu nehmen, eine allgemeine Antwort kann dieser Beitrag nicht geben, denn die Facetten dieser Lebenswelten sind ebenso umfangreich wie andere auch. Und dennoch lässt sich aus unserer Arbeit grundsätzlich, jedoch insbesondere der der letzten Monate, ein ernüchternder Eindruck zu den Verhältnissen gewinnen.
Mit dem vorliegenden Beitrag wage ich den Versuch, typische Problemlagen anhand von drei Beispielen zu verdeutlichen. Die genannten Beispiele geben aber lediglich einen oberflächlichen Auszug der typischen Lebenswelten vieler unserer Mitmenschen wieder.
„Ach, wissen Sie, das ist für mich alles nicht neu. Bevor ich bei ihnen war habe ich jahrelang so gelebt. Jetzt erleben es die anderen auch mal.“ So brachte ein langjähriger Klient sein Erleben der Ereignisse während des ersten Lockdowns mit der ihm eigenen Resignation zum Ausdruck und fügt noch hinzu, dass es schon schön wäre, wenn er bald wieder in die Einrichtung kommen dürfte.
Ein weiterer Klient nahm sich kurz vor dem Lockdown vor, das Kinderzimmer seines geistig behinderten Sohnes zu renovieren. Er räumt aus, schabt die alte Tapete von der Wand und kauft neue Tapete und Farbe und plötzlich ist die Schule zu und der Junge zuhause. Für Homescooling steht der Familie ein Prepaid-Handy zur Verfügung. Überfordert von Frau und Sohn flüchtet er sich zu anderen, in seiner Lebenswelt gewohnten, sozialen Kontakten und Aktivitäten. Nach Ende des Lockdowns dauert es vier Wochen und unzählige Telefonate bis er sich, gezeichnet von Rückfällen und psychischer Überforderung, wieder in die Einrichtung traut. Vorgeblich ist da aber auch auf wiederholte Nachfrage alles soweit in Ordnung. Im Herbst hört eine aufmerksame Lehrerin von dem Sohn, dass er seit Monaten mit seiner Mutter auf dem Sofa schläft, da sein Zimmer leer ist. Das Jugendamt setzt eine Frist von zwei Wochen, um einen angemessenen Zustand herzustellen. Der Vater ist ehrlich empört über diese Forderung, aber mit viel aktiver Unterstützung gelingt es ihm für den Moment, die Berechtigung der Forderung zu akzeptieren und die Frist zu halten. Der komplette Absturz folgt und das Jahr 2021 beginnt dann mit acht Wochen Aufenthalt im psychiatrischen Krankenhaus.
Und dann war da der kleine, scheue Mann aus dem Süden der Stadt, welcher im Jahr vor der Pandemie in eine tagesstrukturierende Maßnahme mit psychosozialer Begleitung aufgenommen wurde. Der seit Jahren alkoholkranke Mann lebte vom Arbeitslosengeld II. Die Liste seiner Diagnosen war lang und bei genauerer Betrachtung auch grausam. Sein Weg führte aber zunächst aufgrund suchtbedingter Vermittlungs- und Beschäftigungshemmnisse zu uns. Bereits in den ersten Wochen wurde deutlich, dass er vollständig strukturentwöhnt, kontaktscheu und sozial isoliert lebte. Das persönliche Lebensumfeld war auf seine Wohnung, gelegentlich auch auf Milieutreffpunkte reduziert. Einziger regelmäßiger sozialer Kontakt war seine hochbetagte Mutter. Interessen und Vorlieben waren nicht erkennbar. Er konnte sich den Umständen entsprechend in die Abläufe der Einrichtung einfinden und kam pflichtbewusst regelmäßig und nüchtern. Seine gesundheitliche Kondition ließ aber zusehends nach. Im Herbst 2019 beantragte er daher, nach vielfachen vergeblichen Versuchen seinen Betreuer zu erreichen, welchen er übrigens nicht kannte, mit unserer Unterstützung, eine Erwerbsminderungsrente - auch um eine Chance auf Leistungen zur sozialen Teilhabe in tagesstrukturierender Form zu haben. Im April 2020 kontaktierte uns die DRV, da sie dem Versicherten die Bescheidung nicht zustellen konnte, weil der Briefkasten nicht kenntlich war. Wir sorgten per Hausbesuch und Fenstergespräch für die Kenntlichmachung. Den, nach Aktenlage ergangenen, abschlägigen Bescheid mit der Bescheinigung seiner Erwerbsfähigkeit, brachte er dann im Juni, als die Einrichtung wieder zugänglich war, ungeöffnet mit. Nach einer weiteren Verschlechterung seines Zustandes erlag er schließlich am 05.04.2021, vollschichtig erwerbsfähig und einsam, seinem schweren Krebsleiden.
Ich springe nun zurück in die einführenden Zeilen und möchte noch ein wenig ergänzen. Ich behaupte, wir alle haben in den letzten Monaten Situationen erlebt, wie die Maßnahmen, Verordnungen und Gesetze zum Infektionsschutz sowohl quantitativ als auch inhaltlich die Grenzen des für uns rational zu Verarbeitenden strapazierten und überschritten. Sie waren für die meisten Bürger schlicht nicht barrierefrei. In den Lebenswelten am Rand der Gesellschaft waren sie für die betroffenen Bürger folgerichtig nicht oder nur unzureichend umsetzbar. Die Barrieren wurden hier eher noch erhöht, weil unterstützende Anlaufstellen und Versorgungsinstitutionen zeitweise schließen mussten und in der Folge elementare Verbindlichkeiten ausgehebelt wurden. Zudem lassen die für das Teilhabemanagement zuständigen Schlüsselbehörden teilweise bis heute keinen Kundenverkehr zu.
Nach meinem Eindruck spiegelt der Umgang mit der Pandemie damit in erschreckender Weise die Einstellung zu den Rechten auf Teilhabe und Eingliederung psychisch kranker und suchtkranker Menschen im Land Sachsen-Anhalt. Während der Infektionsschutz die Lebenswelten schlecht erreicht, weil bei Absendern offenbar eine fatale Verkennung der lebensweltlichen Prioritäten besteht, stehen die Möglichkeiten auf soziale Teilhabe und Eingliederung für Menschen aus diesen Lebenswelten seit Jahren immer wieder zur Disposition, weil sich das Land Sachsen-Anhalt gestattet den Status einer gegebenen oder drohenden Behinderung nach Kassenlage auszulegen. Da innerhalb der beschriebenen Lebenswelten Sozialisationsprozesse begründet werden, ist in diesem Kontext explizit auch auf die Folgen für nachkommende Generationen hinzuweisen. Der dringende Auftrag an die politisch Verantwortlichen lautet in der Konsequenz einmal mehr, dafür Sorge zu tragen, dass gesellschaftliche Schutzaufträge für alle Adressaten barrierefrei, durchlässig, transparent und zügig sowie für Leistungserbringer wirtschaftlich auskömmlich untersetzt erfüllt werden können. Wir reden von Gerechtigkeit und Teilhabe, feilschen dabei um Kosten und Zuständigkeiten, vergessen regelmäßig das Teilhabe für den Einzelnen belastbare und vor allem erreichbare Alternativen benötigt. Wir reduzieren Teilhabe so auf eine, mittlerweile nahezu vorbehaltlose, Sicherstellung des wirtschaftlichen Existenzminimums und ignorieren beharrlich das Teilhabe eine soziokulturelle Existenzgrundlage mit allen Rechten und Pflichten benötigt.
Artikel 1 Abs. 1 des Grundgesetzes beginnt mit „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Beginnen wir doch in diesem Sinne, als eine Lehre aus der Pandemie, am besten damit, Würde nicht nur als Privileg oberhalb des unteren Randes der gesellschaftlichen Mitte zu verstehen. Fangen wir damit an, die Welt der Übriggebliebenen, Ohnmächtigen und Machtlosen im Heute zu einer Welt von gestern zu machen.
Halle im August 2021
U. Kästner